Der 4. Juli 2012 stand ganz im Zeichen des Higgs-Bosons: Die Teilchenphysik jubelte über ihren Erfolg – und es gab kaum eine Zeitung oder eine Nachrichtensendung, die nicht über die spektakuläre Entdeckung berichtete. Vom Theoretiker-Trio Peter Higgs, Robert Brout und François Englert bereits in den 1960er Jahren vorhergesagt, dauerte es fast 50 Jahre, bis die passende „Suchmaschine“ fertig war: Der Beschleunigerring LHC mit den Experimenten ATLAS und CMS. Dort finden Proton-Proton-Kollisionen statt, in deren Trümmern Physiker*innen mit Erfolg nach Spuren des vorhergesagten Higgs-Teilchen gesucht haben.
Mit dem Higgs-Boson machte die Teilchenphysik ihr Standardmodell komplett: 12 Materieteilchen, vier Austauschteilchen und als Schlussstein das Higgs-Boson – das einzige Teilchen ohne Eigendrehimpuls (Spin). In diesem Teilchen manifestiert sich das Higgs-Quantenfeld, welches das Universum wie ein Sirup ausfüllt, der an den anderen Teilchen als Masse „kleben“ bleibt.
Der zehnte Jahrestag der Entdeckung bietet Anlass, die vergangenen zehn Jahre wissenschaftlich Revue passieren zu lassen und in die Zukunft zu blicken. Zwei Forscherinnen am Max-Planck-Institut für Physik (MPP) haben an Beiträgen in der aktuellen Nature-Ausgabe mitgewirkt. Sandra Kortner ist Co-Autorin eines Artikels des ATLAS-Experiments, der über die neuesten Messungen der Higgs-Eigenschaften berichtet. Die theoretische Physikerin Giulia Zanderighi wirft einen Blick auf grundlegende Fragen im Zusammenhang mit dem Higgs-Boson.
Was bisher geschah ...
Der Nachweis des Higgs-Bosons war nur der Anfang für weitere, intensive Studien. Im letzten Jahrzehnt haben ATLAS-Wissenschaftler*innen die Eigenschaften des Teilchens mit hoher Präzision vermessen. Der Schwerpunkt der beiden langen Messreihen am LHC (Run 1: 2009-2012; Run 2: 2015-2018) lag dabei auf den Wechselwirkungen des Higgs mit anderen (Austausch- und Materie-)Teilchen im Standardmodell.
„Das Spannende ist, dass es so viel Neues zu sehen gibt. Die Wechselwirkungen mit den fünf schwersten bekannten Elementarteilchen konnten wir bereits nachweisen und vermessen, und zwei weitere deuten sich langsam an“, sagt Sandra Kortner, die am MPP eine Arbeitsgruppe zur LHC-Physik leitet. „Die Ergebnisse passen tatsächlich sehr gut zu theoretischen Vorhersagen, die im Laufe der Zeit wesentlich genauer geworden sind.“
Seit der Higgs-Entdeckung wurden insgesamt fast 30.000 Higgs-Bosonen im ATLAS-Detektor beobachtet. Vor einigen Wochen startete am LHC die 3. Messphase, die bis 2025 läuft. Sandra Kortner: „Danach werden wir das Higgs-Boson und seine Wechselwirkungen mit Elementarteilchen noch wesentlich genauer charakterisieren können und dabei möglicherweise auf neue Entdeckungen stoßen.“
... und vielleicht noch geschehen wird
Der zweite Übersichtsartikel beleuchtet das Higgs-Boson und die bisherigen Erkenntnisse aus theoretischer Perspektive. Zudem skizzieren die Autor*innen verschiedene Szenarien, die sich in im Run 3 experimentell nachweisen lassen könnten.
Ein Beispiel sind Wechselwirkungen mit leichteren Teilchen im Standardmodell – insbesondere den Myonen und Charm-Quarks. „Weitere Messungen könnten auch zeigen, dass das Higgs-Boson nicht elementar ist, sondern eine Unterstruktur aufweist“, sagt Giulia Zanderighi, Direktorin der MPP-Abteilung „Innovative Berechnungsmethoden in der Teilchenphysik“.
Außerdem bietet das Higgs-Boson spannende Anknüpfungspunkte zu anderen großen offenen Fragen in der Teilchenphysik. „Das Higgs könnte zum Beispiel an der Inflation, also der sprunghaften Expansion des frühen Universums beteiligt sein“, erläutert Zanderighi. „Außerdem könnte das Higgs eine Art Portal zu Dunkler Materie sein. Und auch die Frage, warum es im Universum Materie, aber kaum Antimaterie gibt, steht möglicherweise im Zusammenhang mit dem Geburtstagskind.