Data Preservation
Das Ende eines Experiments bedeutet nicht automatisch, dass die wissenschaftliche Arbeit abgeschlossen ist. Häufig arbeiten Wissenschaftler weiterhin mit den Messdaten. Zum Beispiel können sie damit aktuelle Ergebnisse anhand früherer Daten überprüfen. Möglicherweise liefern "alte" Daten lange nach dem Abschluss der Versuche neue Erkenntnisse - etwa, wenn sie mit neuen, verbesserten Verfahren analysiert werden können.
Daten aufzuheben, lohnt sich also. Zudem fließen in den Aufbau und Betrieb von Experimenten hohe Investitionen. Ziel sollte daher sein, die Messdaten lange nutzbar zu halten und möglichst viele Erkenntnisse daraus zu gewinnen.
Das Max-Planck-Institut für Physik beteiligt sich aktiv daran, Daten früherer Experimente für kommende Wissenschaftler-Generationen zu digitalisieren und aufzubereiten. Physiker und IT-Experten entwickeln Methoden, um Daten, Analysesoftware und Dokumentationen auch in künftigen IT-Systemen bearbeiten und auswerten zu können. Häufig nutzen sie dafür so genannte virtuelle Maschinen, die frühere Betriebssysteme oder Anwendungen auf modernen Rechnern simulieren.
Welche früheren Experimente liefern heute noch Daten?
H1 und die anderen Experimente (z.B. Hera-B und ZEUS) am Beschleunigerring HERA zeigten, dass ein Proton viel komplexer ist als bisher angenommen: Es besteht aus einer großen Anzahl an Quarks, Antiquarks und Gluonen. H1 half zu beweisen, dass bei hohen Energien die elektromagnetische und die schwache Kernkraft zwei Aspekte einer einzigen elektroschwachen Kraft sind.
Die H1-Gruppe am Max-Planck-Institut für Physik war maßgeblich am Bau der Hauptkomponente des Detektors, dem Flüssig-Argon-Kalorimeter, beteiligt und hatte die gesamte Auslese- und Trigger-Elektronik für das Kalorimeter entwickelt.
Weiterhin hatte die Gruppe neuartige Konzepte zum Auslösen der Detektorauslese („Trigger“) realisiert. Dies ist zum einen der so genannte „Jet-Trigger“, der in der Lage ist, innerhalb von nur 800 Nanosekunden alle in der Elektron-Proton-Kollision entstehenden Teilchenbündel im Kalorimeter aufzuspüren und für eine komplexe Filterung erwünschter Ereignisse zu nutzen.
Zum anderen wurde schon vor etwa zehn Jahren ein weltweit einzigartiger Trigger entwickelt und betrieben, der künstliche neuronale Netze – in ihrer Architektur dem Vorbild des menschlichen Gehirns nachempfunden – zur schnellen und effizienten Mustererkennung von interessanten Elektron-Proton-Streuprozessen verwendet.
Beide Projekte sind Beispiele für den Einsatz modernster Elektronik bei physikalisch komplizierten und zeitkritischen Fragestellungen.
Im Experiment HERA-B entstanden durch Wechselwirkungen unter anderem schwere Quarks wie „Charm“ und „Beauty“. HERA-B wurde entwickelt, um die CP-Verletzung im Bereich der Beauty-Quarks zu untersuchen. Hier zerfallen Teilchen und Antiteilchen ungleich – was die Verletzung der CP- (Charge parity) Symmetrie ist. HERA-B veröffentlichte Ergebnisse im Charm-Quark-Sektor und zur Quantenchromodynamik (QCD), der Theorie der starken Kraft. Das Institut entwickelte die Module des Silizum-Vertexdetektors.
ZEUS war mit 3.600 Tonnen Gewicht ein massiver Detektor, dessen Herzstück ein Uranium-Szintillator-Kalorimeter war. Dieses Kalorimeter, zeichnete die gebündelten energiereichen Teilchen auf, die bei der Sondierung von Protonen mit Elektronen entstehen. Die Auswertung der Daten liefert bis heute Antworten zur Struktur des Protons und der Wirkungsweise der QCD.
Das JADE-Experiment war eines der Experimente am Positron-Elektron-Ringbeschleuniger PETRA am DESY in Hamburg.
Das OPAL-Experiment (Omni Purpose Apparatus at LEP) lief von 1989 bis 2000 am Large Electron-Positron Collider (LEP) des CERN bei Genf in der Schweiz. LEP ist der Vorgänger des Large Hadron Collider (LHC) und wurde Ende der 80er Jahre im selben Tunnel installiert.
Ziel von LEP war es, Kollisionen von Elektronen und ihren Antiteilchen, den Positronen, bei höchsten Energien zu erzeugen, um die seinerzeit neu entdeckten W- und Z-Bosonen im Detail studieren zu können sowie nach neuen Phänomenen zu suchen.
Bei der Kollision von Elektronen und Positronen entsteht reine Energie, aus der neue Teilchen hervorgehen. Diese werden also unter besonders einfachen und kontrollierten Bedingungen produziert, so dass sehr genaue Messungen möglich sind.
Das OPAL-Experiment war eines von vier großen Experimenten am LEP und hat mehrere Millionen Elektron-Positron Kollisionen aufgezeichnet, die bei Energien entsprechend der Masse des Z-Bosons (91,2 Gigaelektronenvolt, GeV) bis hin zur höchsten LEP-Energie von 209 GeV erzeugt wurden. Mit diesen Daten wurde in mehr als 300 Publikationen das heute gültige Standardmodell der Teilchenphysik etabliert.
Die Daten des OPAL Experiments (und der anderen LEP-Experimente) sind auch heute noch einzigartig und lassen sich nicht durch andere Daten, zum Beispiel der LHC Experimente, ersetzen. Deshalb beschäftigt sich am MPP eine Gruppe mit der Aufbewahrung der Daten und der für die Datenanalyse notwendigen Software. Aktuelle Fragen der Teilchenphysik, die durch neue oder verbesserte Theorien entstehen, können mit den OPAL-Daten untersucht werden. Am MPP entstanden auf diese Weise in den letzten Jahren einige Arbeiten, die in anerkannten Journalen publiziert wurden und häufig zitiert werden.
Thema des Experiments NA49 am CERN-Beschleuniger SPS war die Untersuchung von hochenergetischen Zusammenstößen von Blei-Atomkernen. Dabei entsteht kurzzeitig Materie mit extrem hoher Dichte und Temperatur. Die Nukleonen der kollidierenden Kerne lösen sich in einem Zustand quasi-freier Quarks und Gluonen (Partonen) auf, das Quark-Gluon-Plasma (QGP). Diesen ungewöhnlichen Materiezustand hat unmittelbar nach dem Urknall auch das frühe Universum durchlaufen.
Nach rascher Expansion und Abkühlung zerfällt das QGP wieder in Hadronen (Baryonen und Mesonen), die im Detektor registriert werden. Die von NA49 in den Jahren 1994 bis 2002 durchgeführten Messungen der Energieabhängigkeit der Produktion zahlreicher verschiedener Arten von Hadronen haben gezeigt, dass der Übergang in das QGP bei einer Stoßenergie von etwa 7 Gigaelektronenvolt (GeV) pro kollidierendes Nukleonenpaar im Schwerpunktsystem einsetzt.
Wesentliche Teile des Experimentes wurden von der NA49-Arbeitsgruppe und den technischen Abteilungen des Instituts entwickelt und gebaut, unter anderem die beiden großvolumigen Spurendriftkammern, das Vorwärtskalorimeter zur Selektion zentraler Stöße sowie das Datenerfassungssystem.
Der NA49-Detektor wurde 2007 an die NA61-Kollaboration übergeben, die damit eine systematische Untersuchung des Phasendiagramms hadronischer Materie unter Benutzung verschiedener Kerne durchführt. Die Ergebnisse von NA49 bilden Teil dieses Programms. Die Messdaten werden daher weiterhin im CERN verfügbar gehalten, um neu entwickelte Analysemethoden anwenden und die Ergebnisse publizieren zu können.
Die am CERN SPS begonnene Untersuchung hoch verdichteter und erhitzter Materie wurde am RHIC (Relativistic Heavy Ion Collider, Brookhaven National Laboratory, USA) im STAR-Experiment fortgesetzt. Im Vergleich zu NA49 wurden dort Gold-Atomkerne bei noch höheren Stoßenergien bis zu 200 Gigaelektronenvolt (GeV) pro Nukleonenpaar zur Kollision gebracht. Die höhere Energiedichte und folglich längere Lebensdauer des Quark-Gluon-Plasmas (QGP) ermöglichen eine genauere Messung der Eigenschaften dieses Materiezustands. Ein Resultat war, dass sich das QGP wie eine ideale Flüssigkeit verhält.
Außerdem zeigten Messungen der Produktion von Jets (Teilchenbündeln) mit hohem transversalem Impuls den im QGP erwarteten starken Energieverlust der energiereichen Partonen, aus denen die Jets entstehen (Jet Quenching). Die hohe Energiedichte des am RHIC erzeugten QGP erlaubt erstmalig einen Vergleich mit Ergebnissen aus Rechnungen der QCD-Theorie der starken Wechselwirkung im nicht-perturbativen Bereich (QCD-Simulation auf einem Raum-Zeit-Gitter).
STAR betreibt auch ein Experimentierprogramm mit polarisierten Protonen, um Erkenntnisse über die Zusammensetzung des Spins des Protons zu gewinnen.
Der Beitrag des MPP zum STAR-Detektor bestand aus der Entwicklung und dem Bau der beiden Spurendriftkammern (FTPC) mit neuartiger radialer Driftrichtung. Diese erweiterten den Messbereich der zentralen TPC in den Bereich kleiner Erzeugungswinkel, was besonders die Genauigkeit der Messungen verbesserte.
STAR begann mit der Datennahme im Jahr 1999 und hat seinen Messbereich bis zu niedrigeren Energien erweitert, die auch den Energiebereich des CERN SPS überdecken. Das Experiment wird noch mehrere Jahre aktiv bleiben.