Installation einer sMDT-Kammer im ATLAS-Detektor im Dezember 2020. Die Kammer wird durch den Zugangsschacht in die ATLAS-Kaverne - 100 Meter tief - hinuntergelassen (Foto: ATLAS/CERN)

Installation einer sMDT-Kammer im ATLAS-Detektor im Dezember 2020. Die Kammer wird durch den Zugangsschacht in die ATLAS-Kaverne - 100 Meter tief - hinuntergelassen (Foto: ATLAS/CERN)

Neue Myondetektoren für das ATLAS-Experiment

MPP schließt erstes Detektorprojekt für den High-Luminosity-LHC ab

Ende 2025 beginnt der Ausbau des Large Hadron Colliders (LHC) am CERN. Ziel ist es, die Rate der Teilchenkollisionen zu erhöhen, zehnmal mehr Daten zu sammeln und damit neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die „high luminosity“-Ausbaustufe des LHC (HL-LHC) erfordert auch eine Umrüstung der Experimente, in denen die Kollisionen stattfinden. Das ATLAS-Experiment wird mit einer neuen Bauart von Myondetektoren ausgestattet, ein Projekt, für welches das Max-Planck-Institut für Physik (MPP) verantwortlich zeichnet. 96 dieser Myonkammern wurden in den letzten Jahren gefertigt und stehen zum Einbau bereit. Damit hat das MPP das erste Detektorprojekt für den HL-LHC erfolgreich abgeschlossen.

Das ATLAS-Experiment misst derzeit Zerfälle aus Proton-Proton-Kollisionen mit der maximalen Energie von 13,6 Teraelektronenvolt. In den nächsten Jahren erlebt der LHC am CERN die größten Umbaumaßnahme seit seiner Inbetriebnahme im Jahr 2009. Beim Neustart im Jahr 2029 soll die Luminosität des Beschleunigerrings das Fünffache des aktuellen Werts betragen.  Die Luminosität ist das Maß für die Rate der Kollisionen von Protonen am LHC. Bis 2040 wollen die am ATLAS-Experiment beteiligten Wissenschaftler*innen zehnmal mehr Daten als bisher zu sammeln.

Mit diesem Zuwachs an Daten sind präzisere Messungen der Eigenschaften des Higgs-Bosons und anderer Parameter im Standardmodell möglich. Außerdem lassen sich die vielfältigen Theorien, die neue Phänomene und Teilchen jenseits des Standardmodells vorhersagen, auf den Prüfstand stellen. „Für die direkte Suche nach Phänomenen jenseits des Standardmodells können wir künftig ein größeres Netz auswerfen – zum Beispiel für den Nachweis supersymmetrischer Partner der bekannten Elementarteilchen oder für Teilchen der Dunklen Materie im Universum“, erklärt Hubert Kroha, Projektleiter der ATLAS-Myondetektor-Gruppe am MPP. „Der HL-LHC wird die Hochenergiephysik dominieren, bis ein neuer, noch leistungsfähigerer Beschleuniger gebaut wird, über den zurzeit intensiv diskutiert wird.“

Technische Neuerungen im ATLAS-Detektor

  • Der zentrale Spurdetektor wird durch einen komplett aus Siliziummodulen bestehenden Detektor ersetzt.
  • Im zylindrischen Zentralteil des ATLAS-Myonspektrometers, das hochpräzise Messungen von Flugbahnen und Energie der Myonen erlaubt, werden in der innersten Detektorlage die bisherigen Muon Drift Tube (MDT)-Detektoren ausgetauscht. An ihre Stelle kommen neue so genannte sMDT-Kammern mit Driftrohren von halb so großem Durchmesser.
  • Diese Kammern werden mit einer neuen Generation von Resistive Plate (RPC)-Triggerkammern verbunden. Beide können um eine Größenordnung höhere Teilchenzählraten verarbeiten und weisen eine zehnfach längere Lebensdauer unter der Bestrahlung am HL-LHC auf als frühere Versionen.
  • Die Elektronik aller Detektorelemente, insbesondere der Myondetektoren, sowie das Triggersystem müssen komplett erneuert werden.

Schnelle Entscheidungen im Triggersystem

Das Triggersystem spielt bei der Datenaufzeichnung und -analyse am LHC – und noch viel mehr am HL-LHC – eine wichtige Rolle. Es entscheidet, welche Kollisionen mit Myonen hinsichtlich deren Energie relevant für die Auswertung sind. Damit lässt sich die zu verarbeitende Datenmenge drastisch reduzieren.

Um die Trennschärfe der Triggerentscheidung zu optimieren, hat die Arbeitsgruppe am MPP ein zukunftsweisendes Konzept entwickelt. Künftig werden bei ATLAS die für die präzise Myonenergie-Messung zuständigen Driftrohrkammern auch für die Triggerentscheidung herangezogen, die innerhalb eines Millionstels einer Sekunde stattfinden muss. Die Realisierung erfordert neue Ausleseelektronik und schnelle Algorithmen zur Rekonstruktion der Myonspuren durch die Triggerprozessoren.

Feingliedrige Myonkammern – hochpräzise Messungen

Die sMDT-Kammern werden seit 2008 am MPP entwickelt und sind mittlerweile ein Markenzeichen des MPP. Das Institut hat das Konzept zur Aufrüstung des ATLAS-Myondetektors für HL-LHC erstellt, die sMDT-Kammern und die neuen MDT-Auslesechips, Elektronikplatinen und MDT-Triggerprozessoren entworfen und neue Methoden für die Großserienfertigung von RPC-Kammern in der Industrie entwickelt. Für die Herstellung der schnellen RPC-Detektoren wurde darüber hinaus im neuen Institutsgebäude in Garching ein eine neue robotisierte Montageeinrichtung in Reinräumen geschaffen.

Die sMDT-Kammern bestehen aus zwei Vierfachschichten von Driftröhren. Sie enthalten jeweils beinahe 500 Driftrohre von 1,6 Metern Länge. Für die hochpräzisen Messungen müssen die Drähte in den Driftrohren mit einer Genauigkeit von wenigstens 20 Mikrometern positioniert werden. Für die präzise Montage war ein innovatives Design der Driftrohre erforderlich. Die Positionen aller Messdrähte wurden für jede Kammer unmittelbar nach dem Bau mit einer automatischen Messeinrichtung am MPP überprüft. Dabei zeigte sich, dass die Drähte mit einer Genauigkeit von 5 Mikrometern positioniert werden konnten, was einen Weltrekord für diese Detektorgröße (mehrere Quadratmeter) markiert.

Fertigstellung nach nur drei Jahren

Die ersten 22 Kammern dieses Typs sind bereits seit Jahren im ATLAS-Experiment in Betrieb. Die letzte Installation im ATLAS-Detektor fand Ende 2020 statt. Die Herstellung von 96 neuen sMDT-Kammern für ATLAS am HL-LHC ist das erste Detektor-Bauprojekt des Aufrüstungsprogramms, das begonnen und abgeschlossen wurde – ein wichtiger Meilenstein für den gesamten ATLAS-Forschungsverbund. Der Bau der sMDT-Kammer wurde zu gleichen Teilen vom MPP und der University of Michigan getragen und vom MPP koordiniert. Nach zweijähriger Vorbereitung begann der Bau im Januar 2020 am MPP und drei Monate später in Michigan. Der Bau des MPP-Anteils von 48 Kammern wurde planmäßig nach zwei Jahren intensiver Arbeit im Dezember 2022 abgeschlossen, im September 2023 folgte Michigan.

Die Kammern wurden inzwischen alle ans CERN verschifft, wo sie in einer speziellen Montagehalle auf die Kombination mit den neuen RPC-Detektoren warten, für deren Montage und Installation ebenfalls das MPP zuständig ist. Der Test aller Kammern vor Ort zeigte die gleiche hervorragende Leistung wie zuvor am MPP.