Bei internationalen Fußballturnieren haben Krankheitserreger leichtes Spiel. Denn viele Menschen verfolgen die Spiele in Gruppen, sei es in einem privaten Wohnzimmer, in einer Kneipe oder beim Public Viewing, wo sich etwa das Coronavirus leicht verbreiten kann. So lässt sich klar nachweisen, dass die Fußball-Europameisterschaft 2021 zu zahlreichen Ansteckungen geführt hat. Die Höhe des Effekts unterscheidet sich jedoch stark von Land zu Land.
Das Team aus Göttingen, Bonn und München untersuchte für zwölf der beteiligten Länder, wie sich das Infektionsgeschehen während und nach der EM im Sommer 2021 entwickelte. Die Forschenden nutzten dafür die nach Geschlecht aufgeschlüsselten Fallzahlen, um den Beitrag der EM zum Infektionsgeschehen von anderen Faktoren zu unterscheiden, denn die Fußballspiele verfolgen mehr Männer als Frauen. Dieses Geschlechterverhältnis spiegelt sich auch in unterschiedlichen Infektionszahlen wider. Daraus berechnete das Team, wie viele Infektionen darauf zurückzuführen waren, dass Menschen gemeinsam die Spiele ansahen.
Große Unterschiede zwischen England und Tschechien
Wie unterschiedlich sich die pandemischen Vorbedingungen auswirken, lässt sich gut am Beispiel von Tschechien und England verdeutlichen: So bestritt Tschechien bei der vergangenen Fußball-Europameisterschaft fünf Spiele. Doch trotz großer Fußballbegeisterung im Land kam es dort pro eine Million Einwohnern nur zu etwa 460 zusätzlichen Infektionen. Einen viel größeren Effekt hatte die EM in England. Dort steckten sich in der Folge rund 11.000 Menschen pro eine Million Einwohner mit dem Coronavirus an – das ist das Fünfzehnfache.
Dies lag dabei nicht an der größeren Anzahl von Spielen, da die englische Mannschaft bis zum Finale sieben Spiele absolvierte, sondern vielmehr an der völlig unterschiedlichen Ausgangssituation: In Tschechien gab es zu Beginn der EM nur vergleichsweise wenige Infektionen, in England hingegen waren die Fallzahlen schon zu jenem Zeitpunkt hoch. Auch die Reproduktionszahl, die angibt, wie viele Menschen eine infizierte Person ansteckt, war relativ groß. „In dieser Situation mit hohen Fallzahlen und hoher Reproduktionszahl hat das große Sportereignis das Infektionsgeschehen kräftig angekurbelt“, sagt Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen.
Rund 840.000 zusätzliche Infektionen durch die Europameisterschaft
Zu Ansteckungen kam es dabei weniger in den Stadien als vielmehr bei privaten Treffen, etwa in Pubs und Wohnungen, wo Menschen die Spiele gemeinsam anschauten. Und natürlich blieb es nicht bei den Infektionen an den Spieltagen – denn jede infizierte Person startete eine Infektionskette, über die sich den Schätzungen zufolge im Untersuchungszeitraum bis Ende Juli 2021 im Schnitt pro Virusträger weitere vier Menschen ansteckten.
„Daran kann man sehen, dass Infektionen keine Privatsache sind“, sagt Viola Priesemann. „Denn über solche Infektionsketten breitet sich das Virus auch in vulnerable Bevölkerungsgruppen aus.“ Und gerade unter älteren oder vorerkrankten Menschen, die nur zu einem geringen Anteil selbst die Spiele in größeren Gruppen verfolgt haben dürften, kommt es dann zu Todesfällen.
Die Rolle von Inzidenz und R-Wert
Die Schätzungen ergaben für alle zwölf untersuchten Länder zusammen rund 840.000 zusätzliche Infektionen durch die EM. Wie stark sich COVID-19 im Rahmen der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 ausgebreitet hat, konnte das Team nicht abschätzen, da für viele Länder die Infektionsdaten nicht mehr in der nötigen Detailtiefe zur Verfügung standen. „Wenn vulnerable Gruppen geschützt werden sollen, sind bei einem großen Sportereignis Präventionsmaßnahmen nötig“, sagt Philip Bechtle von der Universität Bonn.
„Der Vergleich der Länder zeigt klar, dass vor allem eine niedrige Inzidenz und eine niedrige Reproduktionszahl R (R-Wert) die beste Grundlage dafür sind, Superspreading-Ereignisse durch Großveranstaltungen in einem überschaubaren Maß zu halten. Masken, vermehrte Tests und Impfungen sowie vorausschauende Kontaktreduktion helfen zusätzlich, das Infektionsgeschehen einzudämmen.“ Auf diese Weise kann die Belastung des stark beanspruchten Gesundheitssystems durch Großveranstaltungen bei zukünftigen Pandemien reduziert werden.