Hier kommt die theoretische Teilchenphysik ins Spiel: Berechnungen spielen eine wesentliche Rolle, um den Verlauf und die Ereignisse der Top-Quark-Produktion am LHC präzise vorherzusagen. Damit lassen sich experimentelle Daten mit hoher Genauigkeit auswerten. Die Wissenschaftler Javier Mazzitelli und Marius Wiesemann vom MPI für Physik haben jetzt zusammen mit der Direktorin Giulia Zanderighi ein neues, kombiniertes Berechnungsmodell vorgestellt, das im renommierten Fachjournal Physical Review Letters veröffentlicht wurde. Im Interview erklärt Zanderighi die Rolle dieser Quarks in der modernen Teilchenphysik.
Warum sind Top-Quarks so interessant?
Das Top-Quark nimmt in der Familie der insgesamt sechs Quarks eine besondere Stellung ein. Es ist das schwerste Teilchen im Standardmodell und damit auch das einzige Quark, das schwerer ist als das Higgs-Boson, das allen anderen Teilchen Masse verleiht. Das Top-Quark ist auch das einzige Quark, das keine Dreifachbindung mit anderen Quarks eingeht. Üblicherweise verbinden sich Quarks in der Natur zu Zweier- oder Dreiergruppen. Protonen und Neutronen etwa, die Atomkerne bilden, bestehen aus jeweils drei Quarks: Protonen aus 2 Up- und 1 Down-Quarks, Neutronen aus 2 Down- und 1 Up-Quarks. Man bezeichnet sie auch als Hadronen.
Wie hat man das Top-Quark entdeckt?
In theoretischen Modellen existiert das Top-Quark bereits seit den 1960er Jahren. Weil das Top-Quark so schwer ist, hat es jedoch sehr lange gedauert, bis es entdeckt wurde. Denn nach Einsteins E=mc2 Formel benötigt man sehr hohe Energien, um Top-Quarks zu erzeugen. Erst 1994 gelang es, das Top-Quark am Tevatron-Beschleuniger nachzuweisen. Dies war der energiereichste Beschleuniger seiner Zeit. Seither wird es intensiv erforscht. Indem wir Eigenschaften des Top-Quarks genau berechnen, könnten wir irgendwann auf die Spuren von „Neuer Physik“ stoßen, also einer Physik, die nicht mit dem Standardmodell der Teilchenphysik zu erklären ist. Ein solcher Hinweis wäre es beispielsweise, wenn zwischen experimentellen Daten und unseren Berechnungen kleine Unterschiede zu gefunden würden.
Wie lassen sich Top-Quarks nachweisen?
Bei der Kollision von Protonen wie am LHC entstehen Top-Quarks überwiegend in Paaren, also ein Top-Quark zusammen mit einem Anti-Top-Quark. Da beide innerhalb kürzester Zeit zerfallen, lassen sie sich nur über ihre Zerfallsprodukte nachweisen. Wir kennen die Zerfallskette sehr genau: Die beiden Top-Quarks zerfallen üblicherweise in ein Bottom-Quark und ein W-Boson. Das W-Boson zerfällt ebenfalls, bevor man es nachweisen kann: entweder in Quarks, die sich zu Dreier-Gruppen formieren und damit ein Hadronen bilden, oder in ein geladenes Lepton und ein Neutrino. Auch das Bottom-Quark lässt nur indirekt über die Bildung von stabilen Hadronen rekonstruieren.
Welche Rolle spielen theoretische Vorhersagen?
Wir kennen zwar die Endzustände. Allerdings ist es schwierig, die vorherigen Zerfallsschritte „rückwärts“ nachzuvollziehen. Die stabilen Endprodukte könnten ja auch auf anderem Weg entstanden sein. Die theoretischen Vorhersagen erlauben es uns, Wahrscheinlichkeiten zu definieren – und damit die Ergebnisse richtig zu interpretieren. Die bei Protonenkollisionen entstehenden Top-Quarks bilden auch einen Teil des unerwünschten Untergrunds, also gewissermaßen Datenschrott, der die eigentlichen Ergebnisse bei der Suche nach Neuer Physik „kontaminiert“.
Welche neuen Berechnungen hat Ihre Gruppe eingeführt?
Mit unseren aktuellen Berechnungen haben wir zwei sehr unterschiedliche Methoden erfolgreich zusammengeführt:
Bereits vor etwa zehn Jahren wurde die Top-Quark-Paar-Produktion durch eine Störungsreihe in der starken Kopplungskonstante bis zur nächst-nächst-führenden Ordnung (NNLO) berechnet. Damit wurden die ersten drei relevanten Terme in dieser Entwicklung zum ersten Mal bestimmt. Solch eine Rechnung sagt zwar die Wahrscheinlichkeit (den Wirkungsquerschnitt) der Top-Quark-Bildung voraus. Sie kann jedoch nicht den gesamten physikalischen Prozess beschreiben, der für die Entstehung der Kollisions-Ereignisse verantwortlich ist, die sich in den Detektoren der Experimente am LHC beobachten lassen. Diese Unzulänglichkeiten können wir mit Hilfe von Monte-Carlo-Simulationen beheben, so genannten Parton-Schauern. Diese weisen jedoch eine geringere Genauigkeit auf.
Deshalb mussten sich Experimentalphysiker bei der Auswertung von Kollisionen bisher zwischen der NNLO-Methode und den weniger genauen Parton-Schauern entscheiden: Es gab keinen Ansatz, der es vermochte, die beiden Methoden zu kombinieren ohne Genauigkeit einzubüßen. In unserer aktuellen Arbeit haben wir genau das erreicht: Mit unseren neuen Vorhersagen können wir die Top-Quark-Produktion am LHC so genau und realistisch simulieren wie nie zuvor.
Was erwarten Sie von der neuen Berechnungsmethode? Gibt es Hoffnung auf interessante Top-Quark-Resultate?
Wir sind bereits im Austausch mit unseren Kolleg*innen der beiden größten experimentellen Gruppen am LHC (ATLAS und CMS), die unsere Berechnungen in ihren Top-Quark-Analysen anwenden möchten. Durch die gestiegene Genauigkeit der theoretischen Vorhersagen sind verschiedene neue Resultate zu erwarten: Zum einen lassen sich Parameter des Standardmodells, wie die Top-Quark-Masse, die starke Kopplungskonstante sowie Partonverteilungsfunktionen mit nie dagewesener Präzision bestimmen.
Zum anderen könnten wir mit unseren Berechnungen zum ersten Mal Abweichungen zwischen Messungen und den theoretischen Vorhersagen des Standardmodells erkennen – Indizien für Neue Physik. Nicht zuletzt öffnen unsere neuartigen Methoden die Türe zu weiteren Berechnungen von Streuprozessen am LHC, wie der Bottom-Quark-Paar-Produktion oder der gemeinsamen Produktion eines Higgs-Teilchens mit schweren Quarks.