Auch wenn die Absichtserklärung vom 1. Oktober 1992 als Geburtsstunde des ATLAS-Experiments gilt: Die Planungen dafür reichen bis ins Jahr 1984 zurück. Bereits damals diskutierte die Teilchenphysik-Gemeinde das Vorhaben, den damaligen LEP-Beschleuniger durch eine deutlich leistungsfähigere Maschine zu ersetzen: den Large Hadron Collider (LHC) mit Kollisionsenergien von bis zu 14 Tera-Elektronenvolt (TeV).
Mit diesem Projekt verfolgten die Forschenden zum einen das Ziel, das Standardmodell der Teilchenphysik zu testen und dessen letzten noch fehlenden Baustein, das Higgs-Boson, zu finden. Zum anderen hofften sie, „neue Physik“ aufzuspüren – zum Beispiel in Form der bislang nur hypothetischen Supersymmetrie. Parallel zu den Studien für einen neuen Beschleuniger existierten damals bereits erste Projektideen für Detektoren, mit denen sich die im LHC produzierten Proton-Proton-Kollisionen aufzeichnen und auswerten lassen konnten.
Fusion verschiedener Technologie-Konzepte
„Noch bis weit in das Jahr 1992 hinein gab es mehrere konkurrierende Konzeptentwürfe für Großdetektoren am LHC. Zwei davon firmierten unter den Bezeichnungen ASCOT und EAGLE“, sagt Siegfried Bethke, Direktor für Hochenergiephysik am Max-Planck-Institut für Physik. Die beiden Konzepte wurden 1992 unter dem neuen Namen ATLAS (*) zusammengeführt. Die Absichtserklärung zum Bau dieses Detektors unterzeichneten 88 Forschungseinrichtungen aus 24 Ländern. In Deutschland war das MPP Vorreiter und Treiber für das neue ATLAS-Projekt.
„Unter den Direktoren Friedrich Dydak, Volker Soergel und schließlich Siegfried Bethke hat unser Institut wesentliche Komponenten für den ATLAS-Detektor entwickelt und konstruiert“, sagt Hubert Kroha, Leiter der Arbeitsgruppe für das ATLAS-Myonsystem am MPP. „Dies betrifft insbesondere das technische Design der Myondetektoren.“
Zudem waren Forschende am MPP an der Entwicklung einer der beiden Endkappen des hadronischen Kalorimeters beteiligt, das die Energien der meisten Teilchen misst. Die dritte Komponente, an der neben dem MPP auch das Max Planck-Halbleiterlabor mitwirkte, war der innere Spurdetektor, mit den auf Silizium basierenden, hochauflösenden Streifen- und Pixelsensoren.
Erfolge und Zukunft des ATLAS-Experiments
Im Jahr 1993 erteilte das LHC-Komitee der ATLAS-Kollaboration den Auftrag, einen konkreten Projektentwurf einzureichen. Am 1. Juli 1997 nahm das ATLAS-Projekt die letzte und entscheidende Hürde: Das CERN gab grünes Licht für den Bau der Detektoren ATLAS und CMS, einem weiteren Teilchendetektor für Proton-Proton-Kollisionen.
Zusammen mit ATLAS, CMS und zwei weiteren Detektoren ging der LHC im Jahr 2009 in Betrieb. Mit den aus den Teilchenkollisionen gewonnenen Erkenntnissen erzielte das Experiment im Jahr 2012 seinen bislang sichtbarsten Erfolg: den Nachweis des Higgs-Bosons. Seitdem haben ATLAS-Wissenschaftler*innen die Eigenschaften dieses Teilchens und andere Parameter des Standardmodells mit hoher Präzision vermessen.
Nach Beendigung der aktuellen dritten Messperiode wird der LHC ab 2026 zu einer High-Luminosity-Version aufgerüstet. „Damit werden wir die Anzahl der Kollisionen um das Fünffache steigern können“, erklärt Siegfried Bethke. „Um dieses Potenzial voll auszuschöpfen, arbeiten wir mit unseren Partnern mit Hochdruck daran, den ATLAS-Detektor für die steigenden Datenmengen fit zu machen.“ Bereits jetzt werden am MPP leistungsfähigere Myonkammern und Elektronik-Komponenten gefertigt, die im generalüberholten Experiment zum Einsatz kommen werden.
(*) ATLAS: A Toroidal LHC ApparatuS